Freitag, 22. Oktober 2010

Herzgeschichten

Es geht ja schon eine ganze Weile so. Ein paar Wochen nun so extrem. Bin sehr nah am Wasser gebaut, lechze nach Nikotin, als hätte ich erst vorgestern damit aufgehört, bin gegen Ende der Woche zwar immer sehr zufrieden mit meiner Arbeit, aber meistens auch absolut erschöpft, habe das Gefühl, niemals satt zu werden, dafür jeden Tag dicker (auch wenn die Waage zum Glück nicht mehr anzeigt) und jeden Tag einsamer zu sein, und liebeshungriger, und gleichzeitig immer weniger belastbar, was laute Menschenmengen, Kneipen, Smalltalk etc. betrifft. Das ist genau der Zustand, vor dem man sich eigentlich immer gefürchtet hat, und weswegen ich den richtigen Schritt weg vom Rauchen zuvor nie wirklich gegangen bin. Man ist seinen Gefühlen so ausgeliefert, wie man es vielleicht das letzte Mal richtig als Kind war, und es hört sich verrückt an, wenn ich sage, daß ich dennoch das Gefühl habe, seelisch wohl langsam gesünder zu werden, aber es ist so. Auch, wenn ich noch immer große Angst vor all diesen Gefühlen, von dieser Menge, diesem Wust, dieser unüberschaubaren Unberechenbarkeit habe, so begreife ich doch auch den manchmal so wunderbar funkelnden Schatz, der mir dadurch geschenkt ist, die Freude, die, je stärker ich es ALLEN meinen Gefühlen gestatte, zurückzukehren, auch umso stärker fühlbar ist.
Heute traf sie mich mitten in der Stadt, mitten ins Herz.
Ich hatte immer einen Freund, seit Schulzeiten, wir liebten uns, waren aber nie richtig zusammen, und dann kam er zum Heroin und blieb dort all die Jahre, in denen ich wegzog, zurückkam, wieder wegzog, wieder zurückkam. Ich hielt den Kontakt, meldete mich immer wieder, wir trafen uns, trennten uns wieder, und immer hatte ich Angst, daß mich irgendwann die Nachricht erreicht, daß er gestorben ist, wie 3 andere Freunde von mir. Vor einigen Monaten brach der Kontakt ab, ich konnte ihn nirgends mehr erreichen, seine Wohnung war verlassen, und ich wusste auch nicht, wen ich fragen könnte. Ich fürchtete das Schlimmste, und heute traf ich ihn auf der Strasse, und er sagte, er habe sich endlich auf eine Therapie eingelassen, die wohl gut gelaufen ist, er hat die Wohnung verkauft, und sucht sich jetzt in einer anderen Stadt eine neue Arbeit. Sein geliebtes, vertrautes Gesicht, welches immer von der Droge aufgedunsen und entstellt gewesen war, war total verändert, er hat tiefe Falten bekommen, die aber irgendwie wie jetzt endlich am richtigen Platz zu sein schienen, und er freute sich, daß ich es sehen konnte, denn er selbst konnte es für sich fühlen, und das sah ich auch. Ich habe auf offener Strasse das Heulen angefangen, so glücklich war ich, daß er noch lebt, und daß er endlich etwas für sich ändern konnte.
Noch jetzt kommen mir die Tränen, wenn ich daran denke, und es ist seltsam, denn ich habe heute auch schon geheult, weil ich mich einsam fühlte, und es trotzdem nicht schaffte, noch mal raus unter Leute zu gehen, seltsam, weil ich nicht mehr so trennen kann, in : das ist ein negatives, das ist ein positives Gefühl, sondern eher: das ist sehr intensiv!
Das bedeutet auch, daß ich weniger an meinen Gefühlen leide (obwohl es schon noch oft der Fall ist), aber ich einfach öfter die Intensität wahrnehme und eher einfach als bereichernd empfinde. (Heulen tut eigentlich gut, ist erleichternd, gerade für mich, die jahrelang kaum geheult hat)

Noch immer bin ich damit am Anfang, habe manchmal noch immer Angst vor gewissen Gefühlen, wie Trauer, wie Wut, denn es stimmt einfach, daß meine Gefühle sehr stark sind, und ich sie einfach extrem intensiv wahrnehme, so daß ich bisher meistens Schutz suchte z.B. hinter viel Rauch und anderen wirksamen Mauern, aber ich sehe heute mehr und mehr, daß mir dann, neben dem Leid, welches zum Leben dazugehört, auch solche Freude wie heute entgehen würde, und das will ich eigentlich nicht mehr verpassen.

So. Schlaft gut ins Wochenende, meine lieben Lieben!
:-)
2077 x aufgerufen und abgelegt unter Gefühlshaushalt
Mondkuss69 - 2010/10/23 00:06

Oh wow, hier muß ich demnächst noch mehr dazu schreiben. Hab aber im Moment gar keine Kraft dazu. Deswegen drück ich Dich nur ganz fest virtuell...

momoseven - 2010/10/23 13:10

*Ganzfestzurückdrück*

Chutzpe - 2010/10/23 17:02

Nur der Rationalismus hat mich überleben lassen - wie oft muss ich mir in der Therapie wieder und wieder anhören: Sie müssen das aushalten lernen (was auch immer es grad betrifft) - denn: auch gesunde Menschen durchleben das - und sterben ja auch nicht - und es geht immer besser - nach 10 Jahren habe ich zwar noch immer oft das Gefühl ich stehe wieder am Anfang, doch das stimmt nicht.

Ich rauche ja nur ganz wenig und kann somit nicht auf Entzug kommen - manchmal rauche ich wochenlang nicht - doch der Mann einer Arbeitskollegin wurde definitiv depressiv und bekam Panikattacken und das nach über einem Jahr rauchfrei - der arme Kerl - das stell ich mir auch brutal vor.
Das eine Mal ist bei mir ein AD-Entzug brutal eingefahren - ich konnte kaum arbeiten - dabei behaupten die ja immer, dass ADs körperlich nicht abhängig machen - Lügner.

Für deinen "Freund" freue ich mich sehr - es ist nämlich nie zu spät - für keinen ;-)

Ich gehe jetzt weiter vor mich hin heulen - und hoffe, dass keiner mehr was von mir will.

Soweit war ich in den letzten Wochen übrigens ganz ohne Nikotin-Entzug: Zu müde, um noch irgendwas zu schaffen - und das will ich einfach nicht mehr.

Geniess die Tage!

momoseven - 2010/10/23 21:47

*Drück*

Na ja, heute ging es mir zur Abwechslung dann eben mal wieder nicht so gut, habe mich aber zum Yoga geschleppt, und das hat schon gutgetan.
Chutzpe - 2010/10/23 22:03

Mich macht das immer nur noch aggressiver, wenn ich mich dann noch an sowas machen muss/soll - doch da ja alle Welt predigt, man brauche einen Ausgleich blablabla, höre ich mir das halt auch weiterhin an.

Ich kanns übrigens auf den Tod nicht ab, wenn ich was fühle - lieber auf das Schöne verzichten als mit dem ganzen Scheiss die ganze Zeit konfrontiert werden. Auch das ist nicht Therapieziel - ich weiss.
momoseven - 2010/10/23 22:16

Mir hilft es schon, ich komme oft über den Körper besser wieder auf den Teppich, als über den Kopf, und manchmal nimmt es mir ein wenig vom Druck weg.
Es gab lange Zeiten, da wollte ich auch lieber nix fühlen, und das passiert auch heute noch, aber da müsste ich mich echt total zudröhnen, abschiessen, wenn ich gar nicht mehr fühlen sollte, und es ist zwar Knochenarbeit, aber für mich notwendig, meine Gefühle zurückzuerobern mit der Zeit.
Chutzpe - 2010/10/24 07:18

Bei mir ist es leider genau umgekehrt - wenn ich mich abschiessen könnte, würde ich es tun - doch leider geht es mir - legal oder illegal - immer gleich so schlecht, dass ich mir das nicht antun mag - sonst wäre ich eh schon längst an einer Überdosis gestorben. Suchtgefährdet bin ich sowieso - ein Aspekt der Störung.
Nachtgezwitscher - 2010/10/23 18:37

Es ist so schön, wenn man sein Inneres stark spürt, weil man einen Menschen liebt. Ich fühle mich dann sehr lebendig.

momoseven - 2010/10/23 21:55

Ja, schön formuliert. Das geht mir übrigens auch mit meinem kleinen Hund so, sie hält das Liebesgefühl in mir am Laufen, auch wenn ich z.B. schon lange nicht mehr richtig verliebt war.
romeomikezulu - 2010/10/23 19:03

Gefühlsausbrüche, gleich ob positiver oder negativer Qualität, zeigen doch vor Allem Eines: Dass man LEBT. Dass man Empathie empfindet.

Wenn dann noch die Seele sich selbst als "im Gesundungsstadium befindlich" empfindet, dann kann das Alles doch gar nicht verkehrt sein!
Von ganzem Herzen daher (so sehr das manches Mal auch noch mit "Leiden" verbunden sein mag) : Herzlichen Glückwunsch :-).

Und in DEM hier ist nahezu jede Zeile voller kleiner Wahrheiten...:

momoseven - 2010/10/23 22:01

Herzlichen Dank, werter Herr Romizu!

Ja, ein Schöner Text, und Sie sind auch ein Einzelstück!!!!
Und ein nettes obendrein!
:-)
wasserfrau - 2010/10/26 14:17

Dieser Text hat mich sehr berührt. Ich empfinde Dünnhäutigkeit keineswegs immer als Geschenk, manchmal scheint die Kraft zu fehlen für diese wertschätzende Tapferkeit dem Fühlbaren gegenüber. Sie beschreiben das so offen und klug, was Ihnen widerfährt.

momoseven - 2010/10/26 18:04

Danke, Wasserfrau!

Geht mir ja ähnlich, oft leide ich auch noch immer sehr, deshalb ist es wirklich ein Geschenk, wenn es mit Freude gepaart ist.
:-)
madove - 2010/10/31 10:36

Das ist ein wunderbarer Text, so offen zu sich selber und voller Kraft... ich hab mich in vielem wiedererkannt, hätte es aber nicht so schön gut beschreiben können. Hat mich sehr berührt. Danke! :o)

momoseven - 2010/10/31 15:22

Vielen Dank für´s Feed-Back! Ich freue mich sehr, wenn meine Texte was geben können!
:-)))

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